Ankommen bei mir selbst – Was Katja auf 13 Jakobswegen gelernt hat

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Katja Härle ist Pilgerin aus Leidenschaft. Schon dreizehn Mal ist sie den Jakobsweg gegangen! Immer wieder ist sie dem Ruf des Camino gefolgt.

Frei-mutig verrät sie, warum der Jakobsweg sie so fasziniert, was sie immer wieder antreibt und wie sich Ankommen anfühlt. Außerdem hat sie Tipps für diejenigen unter uns, die ebenfalls die Sehnsucht verspüren, einmal selbst zu pilgern.

Weißt Du noch, warum Du damals auf Deinen ersten Jakobsweg aufgebrochen bist?

Katja: Das weiß ich noch ganz genau. Nach einem Burnout steckte ich in einer schwierigen Phase. Klar war nur: So wie bisher konnte es nicht weitergehen. Doch was vor allem beruflich stattdessen kommen sollte, wusste ich nicht. Inmitten dieses Durcheinanders kam plötzlich der Impuls, den Jakobsweg zu gehen – und zwar von Saint-Jean-Pied-de-Port bis Richtung Santiago. Allein, und noch im selben Jahr. Es fühlte sich nicht wie eine Entscheidung an, eher wie ein Ruf. Drei Wochen später stand ich mit meinem Rucksack am Fuße der Pyrenäen.

Katja Härle Wegemutig Ankommen pilgern Camino

Du bist schon 13 Mal den Jakobsweg gepilgert. Warum brichst Du immer wieder neu auf?

Katja: Auf Pilgerschaft zu gehen ist meine Form von Auszeit. Im Alltag finde ich zwar regelmäßig Momente der Stille, durch Meditation oder kleine Pausen, doch das Pilgern schenkt mir etwas, das darüber hinausgeht. Es ist wie eine Kur: Viele Stunden allein unterwegs, Zeit für Gedanken und Gefühle, eingebettet in die Natur.

Nach meinem Burnout habe ich mein Leben stärker auf Ruhe und Achtsamkeit ausgerichtet. Nicht (nur) um mich vor erneuter Erschöpfung zu bewahren, sondern weil ich gemerkt habe, dass ich diesen Ausgleich brauche. Nach Phasen voller Begegnungen und Trubel sehne ich mich nach Rückzug. Der Jakobsweg bietet mir genau das: Ein Ankommen bei mir selbst.

Was bedeutet Pilgern für Dich?

Katja: Pilgern ist für mich eine Rückkehr zum Wesentlichen. Der Alltag auf dem Weg reduziert sich auf das Nötigste: Gehen, essen, schlafen. Schon das macht viel sichtbar. Ich erkenne, wie wenig ich tatsächlich brauche und wie viel Ballast ich im Leben oft mit mir herumtrage, ohne dass es mir guttut. Nach vielen meiner Jakobswege habe ich zu Hause ganze Schränke ausgeräumt, Dinge verkauft, verschenkt oder gespendet. Unbenutztes nur aufzubewahren fühlt sich für mich inzwischen wie eine Last an. Ich habe das Bedürfnis, den Dingen wieder einen Sinn zu geben, anstatt sie verstauben zu lassen.

„Der Weg erinnert mich immer wieder daran, wie wichtig es ist,
dieser leisen inneren Stimme Raum zu geben“

Doch die Reduktion betrifft nicht nur das Materielle. Beim Pilgern schaue ich genauer hin: Was erfüllt mich, was trägt mich, und was ist nur Routine, die mir längst nicht mehr entspricht? Welche Begegnungen nähren mich und welche Menschen tun mir nicht gut? So wird jeder Weg zu einer Art Standortbestimmung.

Im Kern ist Pilgern für mich ein Training, meinen inneren Kompass wieder zu spüren. Ich spüre klarer, was ich brauche, was mir guttut, und wie es mir gerade wirklich geht. Im Alltag geht dieses Gespür schnell unter, überlagert von Terminen, Erwartungen und Lärm. Der Weg erinnert mich immer wieder daran, wie wichtig es ist, dieser leisen inneren Stimme Raum zu geben, denn sie ist es, die mich durch mein Leben führt.

Katja Härle Wegemutig Ankommen pilgern Camino

Was unterscheidet das Pilgern vom Wandern?

Katja: Für mich ist Pilgern vor allem ein innerer Weg. Beim Wandern folge ich meist einem äußeren Ziel, einer Strecke zu einem Gipfel oder einem schönen Ausblick. Pilgern dagegen richtet den Blick nach innen. Es geht um meine Beziehung zu mir selbst, zu meinem Leben, zur Welt und manchmal auch zu etwas Größerem, das manche Gott nennen.

„Schritt für Schritt sortieren sich die Gedanken,
Festgefahrenes kommt in Bewegung.“

Unterwegs finde ich Orientierung: Wo stehe ich gerade? Was will ich verändern? Solche Fragen tauchen bei einer gewöhnlichen Wanderung selten auf, beim Pilgern dagegen fast von selbst. Während des Lockdowns, als Reisen kaum möglich war, habe ich deshalb mit „Tages-Pilgern“ begonnen. Ich nenne es auch Impulswandern: Allein losgehen, drei bis vier Stunden lang, mit einer offenen Frage im Gepäck. Schritt für Schritt sortieren sich dabei die Gedanken, Festgefahrenes kommt in Bewegung.

Was verändert sich, wenn man häufiger nach Santiago de Compostela geht?

Katja: Santiago de Compostela stand auf meinen Wegen nie im Mittelpunkt. Der Jakobsweg war von Anfang an eher ein Symbol, getragen von seiner Tradition, den vielen Menschen, die ihn vor mir gegangen sind, und den großen Fragen, die er aufwirft: Was will ich im Leben? Was gibt mir Sinn?

Erst bei einem späteren Camino kam das Gefühl wirklich im Innern an: Ich fühlte mich als Pilgerin, die nach einer langen Reise am Ziel eintrifft. Schmerz und Freude, Erschöpfung und Leichtigkeit, Regen und Sonne, all das lag hinter mir und brach in diesem Moment hervor. Ankommen bedeutete gleichzeitig Erleichterung und Melancholie, ich lachte und weinte zugleich. Da fiel vieles von mir ab.

Ich glaube, ich habe in diesem Moment das erste Mal tief im Innern diese Einfachheit gefunden und wirklich verstanden, dass es auch im Alltag immer nur um diesen einen Schritt geht: Den konkret nächsten Schritt. Über mehr muss ich mir keine Gedanken machen.

Als ich 2017 zum ersten Mal in Santiago ankam, war es für mich schlicht eine weitere Station auf dem Weg. Ich lief weiter bis ans Meer nach Finisterre. Und tatsächlich wäre ich am liebsten die über 900 km zu meinem damaligen Startpunkt St-Jean-Pied-de-Port wieder zurückgelaufen. Einerseits hatte ich in einer schweren Zeit so etwas wie Führung erfahren, andererseits erlebte ich beim Pilgern so viel Einfachheit, die ich ungern gegen den trubeligen Alltag eintauschte.

Katja Härle Wegemutig Ankommen pilgern Camino Finisterre

Pflegst Du den Kontakt zu ehemaligen Mitpilgern?

Katja: Ja, zu einigen ehemaligen Mitpilgern habe ich noch Kontakt. Besonders von meinem ersten Jakobsweg habe ich einige Kontakte mit nach Hause gebracht, die bis heute bestehen. Zum Beispiel zu einer Kanadierin: Wir sind eng verbunden, und sie hat mich sogar schon in Deutschland besucht. Interessanterweise waren es überwiegend Nicht-Deutsche, zu denen ich auf dem Weg eine besondere Beziehung aufgebaut habe. Deutsche Pilger treffe ich eher über meinen Blog oder andere Beiträge, was ebenfalls oft zu bereichernden Gesprächen führt.

Welche 3 wichtigen Erkenntnisse, hast Du von den Jakobswegen mit nach Hause gebracht?

Katja:

1. Schritt für Schritt leben

Ich plane nur noch wenig im Voraus, denn Pläne gehen selten genau so in Erfüllung. Visionen oder Ziele dienen mir als Richtung – den Weg selbst bestimme ich Schritt für Schritt. Jeder Schritt verändert meine Sichtweise und lässt mich Neues lernen. Dadurch können sich auch meine ursprünglichen Ziele oder Visionen anpassen. Ich denke nicht mehr über die nächsten zehn Schritte nach, sondern konzentriere mich auf den konkret nächsten Schritt.

2. Es gibt immer Wege

Ausweglose Situationen gibt es für mich nicht, höchstens Wege, die mir auf den ersten Blick nicht gefallen. Je eher ich erkenne, dass das Leben nie gegen mich ist, desto schneller kann ich mich anpassen und Lösungen finden, die ich tatsächlich gehen kann.

3. Dem inneren Kompass vertrauen

Eine leise Führung begleitet mich durch das Leben – manche nennen es Gott, ich nenne es meinen inneren Kompass. Diese Stimme zeigt mir, was stimmig für mich ist. Auch heute noch ertappe ich mich dabei, zu viel zu grübeln. Dann erinnere ich mich bewusst ans Spüren: Manche Entscheidungen brauchen Zeit, wollen reifen. Wichtig ist, mir treu zu bleiben und jederzeit die eigene Meinung anpassen zu dürfen.

Und das Bonbon: Es gibt immer Hilfe. Menschen helfen gerne – Du musst Dich nur trauen, um Hilfe zu bitten.

Katja Härle Wegemutig Ankommen pilgern Camino

Wie hat sich Dein Leben, beruflich oder privat, durch das Pilgern verändert?

Katja: Mein Leben heute hat nur noch wenig mit dem zu tun, wie ich vor meinem Burnout gelebt habe. Das Pilgern war ein Schlüssel, um wieder meine Richtung zu finden, denn für mich ist Pilgern ein Sinnbild für das Leben: Wir mögen denselben Weg gehen, aber jede*r auf die eigene Weise. Nur wenn ich den Weg auf meine Weise gehe, geht es mir gut. Das hat nichts mit Egoismus zu tun, sondern mit Wahrhaftigkeit, Selbstverwirklichung, Authentizität und Selbstfürsorge.

Konkrete Veränderungen zeigen sich in allen Bereichen: Ich habe die Branche gewechselt, bin heute Gestalttherapeutin und Coach und helfe Menschen, mehr Authentizität in ihr Leben zu bringen. Früher habe ich 50-Stunden-Wochen geschoben, auf Urlaub und Wochenende hingefiebert. Heute freue ich mich fast jeden Tag auf den Tag selbst. Ich genieße meinen Job, kann mit Selbstzweifeln besser umgehen und sorge regelmäßig für Auszeiten. Meine Morgenroutine ist mir fast heilig. Ich meditiere, mache Sport, lese und besuche Seminare zu Persönlichkeitsentwicklung, Philosophie und Spiritualität – Themen, die mich schon seit meiner Jugend beschäftigen. Ich gehe meinen Leidenschaften nach und empfinde mehr Sinn in dem, was ich tue.

„Ich fühle mich mehr ich selbst als je zuvor
und genau das habe ich dem Pilgern zu verdanken.“

Auch mein Lebensstil hat sich verändert: Ich kaufe bewusst und nachhaltig, egal ob Kleidung, Möbel oder Lebensmittel. Ich brauche keine Maske mehr, verstecke mich nicht hinter Makeup oder Kleidern, sondern wähle Bequemlichkeit und Einfachheit – ohne dabei Ästhetik aufzugeben. Kurz gesagt: Ich fühle mich mehr ich selbst als je zuvor und genau das habe ich dem Pilgern zu verdanken.

Welchen Tipp würdest Du jemandem geben, der mit dem Pilgern liebäugelt, aber noch unentschlossen ist, es zu wagen?

Katja: So pauschal lässt sich das kaum beantworten, denn jeder hat eigene Gründe, warum er zögert. Wichtig ist: Schau genau hin, was Dich zurückhält. Ist es Angst? Oder eher die typischen Ausflüchte wie „gerade passt es nicht“? Nimm beides ernst. Frage Dich: Was will mir diese Angst sagen? Was steckt wirklich dahinter? Und wie kann ich mich selbst unterstützen?

Ich wusste zum Beispiel bei meinem ersten Weg genau, dass ich alleine gehen musste. Gleichzeitig hatte ich Bammel. Mein inneres Commitment war: Wenn ich mich unterwegs unsicher fühle, dann schließe ich mich anderen an, die vertrauenswürdig wirken. Dieses innere „Notfall-Sicherheitsnetz“ hat mir die Freiheit gegeben, trotzdem allein aufzubrechen.

Wenn Du bei Deinen Fragen oder Ängsten nicht weiterkommst, dann sprich darüber, mit einer empathischen Freundin oder jemandem, der bereits gepilgert ist. Oft reicht ein offenes Gespräch, um die eigene Entscheidung klarer zu sehen.

Katja Härle Wegemutig Ankommen pilgern Camino

Welchen Weg möchtest Du noch gehen?

Katja: Konkrete Pläne habe ich im Moment nicht. Aber es gibt durchaus Wege, die mich reizen: Etwa die Via Baltica, die Via de la Plata oder der Franziskusweg. Letzterer ist zwar kein klassischer Jakobsweg, gilt allerdings als besonders reizvoll mit eindrucksvoller Landschaft und kleinen, lauschigen Dörfern entlang der Strecke.

Wie fühlt es sich an, anzukommen?

Katja: Das Ankommen in Santiago de Compostela fühlt sich jedes Mal anders an. Es hängt stark davon ab, was innerlich während des Weges passiert ist. Beim ersten Mal war es fast unspektakulär; ich wollte einfach weitergehen, so süchtig war ich nach der Gleichförmigkeit des Pilgerns.

Mit den Jahren hat sich jedoch etwas verändert: Je öfter ich unterwegs war, desto mehr hat sich das Gefühl von Klarheit, innerer Ruhe und bei mir selbst zu sein verankert. Irgendwann war der Jakobsweg so sehr Teil von mir, dass das äußere Ankommen zu einem inneren wurde. Das erlebe ich besonders dann, wenn ich mich mit einer konkreten Frage auf den Weg mache und unterwegs eine Antwort finde.

Am Ende ist Ankommen weniger ein Ort als ein Zustand: Dieses tiefe Gefühl, mit mir im Reinen zu sein.

Buchtipp

Katja Härle Eine Reise zu dir selbst Buch Jakobsweg

Über das Pilgern hat Katja auch ein Buch geschrieben. In „Eine Reise zu dir selbst“ laden sie und ihre Coautorin Angelika Hankele Dich mit persönlichen Erfahrungen, inspirierenden Geschichten und praktischen Impulsen dazu ein, die Essenz des Jakobsweges in den eigenen Alltag zu holen.

Über die Autorin

Katja Härle arbeitet als Gestalttherapeutin, Coach und Gesundheitsmanagerin mit Herz und Tiefgang. Sie begleitet Menschen, die genug vom bloßen Funktionieren haben und wieder spüren wollen, was sie wirklich ausmacht. Mehr über ihre Arbeit findest Du unter www.wegemutig.de.

Welche Erfahrungen hast Du mit dem Jakobsweg bislang gesammelt?
Katja und ich freuen uns auf Deinen Kommentar!

Zum Weiterlesen empfehle ich Dir besonders folgende Artikel:

Mehr Artikel über Minimalismus, gute Gewohnheiten, unterstützende Finanzen, Auszeiten vom Alltag und lesenswerte Bücher sende ich Dir auch direkt in Deine Inbox. Melde Dich dazu einfach für meinen Newsletter an.

Titelbild ebook Die 10 besten Gewohnheiten Frei-mutig

Als Dankeschön für die Anmeldung schenke ich Dir mein eBook „Die besten Gewohnheiten
10 gute Gewohnheiten, die das Leben leichter machen“!

In Kürze erscheint mein Buch über den Jakobsweg!

Bald ist es soweit:

In „Das Lied der Schritte – Tagebuch vom Jakobsweg“ nehme ich Dich mit auf meine Pilgerreise von Porto nach Santiago de Compostela.

Begleite mich auf dem Portugiesischen Jakobsweg entlang der Atlantikküste bei Porto, durch das Landesinnere bis nach Spaniens Norden!

Ein Reisetagebuch für alle, die vom Pilgern fasziniert sind.

Mehr dazu bald hier und in meinem Newsletter!

Das Lied der Schritte - Tagebuch vom Jakobsweg Rebecca Broich Buchcover

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